Ist Sehnsucht eher treibender Motor oder toxische Bremse? Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen, im Zwielicht. Wie alles Menschliche, so ist auch die Sehnsucht komplex. Was Sehnsucht alles sein kann, erfährst Du in diesem Artikel.

Gefühlscocktail Sehnsucht
Sehnsucht. Ein aktuelles Gefühl. Trifft den Zeitgeist. Jahreszeit und Lebensgestaltung tun ihr Übriges. Sehnst Du Dich nach Sonne, Urlaub, Geld? Liebe, Jugend, Veränderung, Weisheit? Sehnsucht, per Definition: Ein inniges, schmerzliches Verlangen, ein Herbeiwünschen.
Fühlst Du es auch? Dieses Ziehen von Zeit zu Zeit?
Ein vielschichtiges Gefühl. Ein Gefühlscocktail. Etwas brennendes Verlangen, dazu leidenschaftliches Warten, Schmachten, Ungeduld, Wünschen, Hoffen und vielleicht etwas Drama und Selbstmitleid.
Unwiederbringlich – Unvollkommen – Unerreichbar: Ungute Gefühle
Die Vorsilbe „un-“ drückt die Verneinung und oft auch den Gegensatz von etwas aus. Zum Beispiel ist mit Unruhe gemeint, dass es nicht ruhig ist, also eher laut. Außerdem haben Worte oft diese Vorsilbe, um etwas negativ zu bewerten und zu verurteilen. Von einer Forschungsgruppe für Entwicklungspsychologie1 werden die folgenden 6 Merkmale von Sehnsucht aufgelistet:
- Unerreichbarkeit einer persönlichen Utopie (das perfekte Leben)
- Unvollkommenheit und Unfertigkeit des eigenen Lebens
- Dreizeitigkeitsfokus (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft)
- Bittersüße Gefühle
- Rückschau und Lebensbewertung
- Symbolcharakter
Die Vielzahl der „Un-’s“ hinterlässt ein ungutes beunruhigendes Gefühl, eine verneinende Grundstimmung. Von Nostalgie, über Heimweh, Fernweh etc., bis hin zur Utopie, sehnst du dich je nach Fokus quer durch alle Zeiten. Du trauerst Vergangenem, Verlorenem nach. Du vermisst schmerzhaft Dinge, Gefühle oder Personen im Hier und Jetzt. Oder Dein Fokus liegt auf deinem perfekten Leben in der Zukunft. Oder auch im anderen Extrem, dem Wunsch nach dem Tod, Todessehnsucht genannt. Vielleicht hast Du vor allem Sehnsucht nach Unwirklichkeit, denn mit Realität hat das Ganze oft nicht viel zu tun.
Hätte -Würde -Könnte: Zeitvertreib und Flucht
Verbunden mit vielen Konjunktiven, zeigt sich Sehnsucht als ein ewiges „Hätte-Würde-Könnte“. Ehrlicherweise sind es manchmal Gedanken, die dem Zeitvertreib oder der Ablenkung dienen. Langeweile an einem verregneten Herbsttag und schon sehnst Du Dich nach dem sonnigen Abenteuerurlaub, den Du am Strand verbringen könntest. Oder ein nerviger Arbeitsauftrag liegt vor Dir, Steuererklärung, und in Deinen Gedanken gehst Du einem super-inspirierenden Job nach, bei dem Du nur Aufgaben zu erledigen hättest, die Dir Spaß machen.
Auch kannst Du Dich wunderbar von Deinen Problemen ablenken, ohne Dich mit ihnen auseinandersetzen zu müssen. So kann Sehnsucht als Ausrede oder Flucht verwendet werden. Du verbringst dann mehr Zeit damit Dir auszumalen wie es wäre, fit zu sein, anstatt etwas zu verändern, um fit zu werden. Denn dafür hast Du dann (vermeintlich) keine Zeit. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass Dich ein solcher Zeitvertreib zum Handeln bewegen könnte.
Die blaue Blume: Romantische Sehnsucht
Etwas mehr Romantik gefällig? Da gibt es dieses Gedicht mit der blauen Blume, welche gesucht, und doch nie gefunden wird. DAS Symbol der Romantik. Die Sehnsucht nach geliebten Menschen wird in Filmen und Liedern oft als etwas Superromantisches dargestellt. Die blaue Blume, oft die Liebe selbst, ist dabei immer unerreichbar und deshalb das höchste Gut. Dann sagen die Darsteller*innen Dinge wie: „Ich kann nicht ohne Dich leben“, und: „Ich brauche Dich“. Ist das romantische Sehnsucht? Je nach Blickwinkel ist es auch traurig und gefährlich. Was steckt dahinter, wenn es wirklich wahr ist, dass Du ohne eine bestimmte Person nicht leben kannst? Flammende Leidenschaft? Kannst Du dann von Glück sprechen? Oder die andere Person? Das kommt auch darauf an, wie Du Dir eine Beziehung vorstellst, welche Bedürfnisse und Werte Du hast. Ob Dir zum Beispiel Individualität wichtig ist, oder Du eher eine Art Symbiose anstrebst. Sehnsucht als Motiv der Romantik ist aus Angst entstanden und damit verbunden, den Urzustand herbeizusehnen. Zum Beispiel aus Angst vor dem Tod wünschst Du Dir Unsterblichkeit. Entsteht Sehnsucht aus Angst? Ist Angst ein guter Motor? Es könnte sein. Aber ungute Gefühle werfen ihre Schatten voraus.
Schreib gern einen Kommentar darüber, was Dir dazu einfällt.
Woher Sehnsucht kommt und wohin sie führt erfährst Du in den nächsten Artikeln. In Teil II geht es um das Mangelgefühl, Sucht und Schicksal, und Teil III handelt von Selbstermächtigung und davon, ob Dich Sehnsucht vom Wollen zum Machen führen kann.
1Scheibe, S., Freund, A. M., & Baltes, P. B. (2007). Toward a developmental psychology of Sehnsucht (life longings): The optimal (utopian) life. Developmental Psychology, 43, 778–795
Was ist Sehnsucht?
Die dialektische Frage, ob Sehnsucht eher treibender Motor oder toxische Bremse ist, hat mich sehr inspiriert, auch die Aussage, dass die Wahrheit im Dazwischen, im Zwielicht liegen könnte. So möchte ich gerne meine „Beleuchtung“ beitragen, die mich im Denken vom Dazwischen zum Davor geführt hat.
Die Sehnsucht ist ein im Menschen angelegter, angeborener seelisch/geistiger Antrieb, eine anthropologische Grundlage wie auch die Angst.
So wie die Organe, der Körper, einen Plan zur Entwicklung haben, dem sie folgen und für den sie eine bestimmte Umgebung, günstige Voraussetzungen haben müssen, ist es auch für die Entwicklung der Individualität.
Die Sehnsucht zur Gestaltung unserer Individualität in die Welt hinein und somit auch der Welt ist auch die Sehnsucht nach günstigen Voraussetzungen wie Liebe und Freiheit.
Philosophen sagen:
„Sehnsucht ist das vergebliche Verlangen, der Fragilität der Freiheit die Festigkeit des Seins zu geben, eine Gestalt, in der sie sich bleibend anzuschauen vermöchte.“
Hegel
J.P. Sartre spricht von der „Sehnsucht, sich vor der Kontingenz des eigenen Daseins zu retten“.
Viktor E. Frankl (Professor für Neurologie und Psychiatrie in Wien, Begründer der Logotherapie) nannte es „Freiheits- und Liebessehnsucht“.
Dazu gehört die Begegnung mit dem anderen Menschen und das Sorgen für die Voraussetzungen zu dessen freier Entfaltung, im Sinne von „Freiheit ist immer auch die Freiheit des anderen Menschen“.
In dieser Gestaltung des Dazwischen von Ich und Du entsteht in der Begegnung die Soziale Plastik, die eine „Höhere Moralität“ enthalten muss.
Diese zu entwickeln setzt eine menschengemäße Ordnung des Sozialen Organismus voraus, in der sich jeder Mensch individuell entfalten kann, unabhängig, mit Blick auf die Unabhängigkeit des Anderen, denn Freiheit ist Selbstbestimmung und Selbstermächtigung.
Alles, was dieser Ur – Sehnsucht zuwider läuft, kränkt den Menschen.
So ist und war dieses Phänomen gesellschaftspolitisch hochbrisant und wurde deshalb als etwas Krankhaftes postuliert, was es zu bekämpfen galt.
In der Geschichte kann nachgelesen werden, wie sich Machtinteressen von Kirchen, Herrschern und Gesellschaftsordnungen, wie auch die in Deutschland aktuelle des Kapitalismus und der „Freien“ Marktwirtschaft, durch Schaffung von Systemen und Werten die Menschen unterdrückten, um sie gefügiger zu machen.
Da die Ur – Sehnsucht eine elementare Kraft ist, ließ sie sich nicht ganz unterdrücken.
So wurden ihr Plätze zugewiesen, die sie in Teilbereiche aufsplitterte, z.B Thema Freiheit, sie kanalisierte. Dort konnte sie dann gewinnbringend für die Mächtigen genutzt werden, z.B. durch Konsum von Freiheit versprechenden Waren, Urlaubszielen, Berufen, usw.
Die Freiheitssymbolik in der früheren Marlboro – Werbung auf Plakaten und als Werbefilm in Kino und Fernsehen ist da noch relativ leicht zu durchschauen.
Die aufgesplitterten, durch Werbung suggerierten Sehnsüchte konnten dann schnell einen Suchtcharakter annehmen, weil sie scheinbar schnell zu erreichen sind und einen Mangel installierten, der die eigentliche Sehnsucht überdeckt, verfälscht.Die Sucht nach schnell erreichbarer Befriedigun „stopfte erstmal das Maul“ und das Verändernwollen der Verhältnisse, der bestehenden Ordnung wurde und wird weiterhin erfolgreich verhindert.
So entstand ein regelrechtes Suchtsystem, dass sich in allen Organisationen und Institutionen, auch Bildungseinrichtungen, finden lässt.
So wurde das krankmachende System zur Unterdrückung genutzt, die Sehnsucht verfälscht.
Machtstrukturen verfestigten sich. Sie sind fehlgeleitete Gestaltungskräfte, dem Menschenwesen, das mit der Ur – Sehnsucht verbunden ist, tief im Herzen fremd!
Macht widerspricht der Freiheit.
Sich in solcher Suchtgesellschaft selbst zu ermächtigen, setzt viel Mut, Selbsterkenntnis, Willen und Hoffnung voraus.
Auch die Mächtigen sind nicht frei, sondern oft von Macht „besessen“.
Eine menschengemäße Ordnung im Sinne der Ur – Sehnsucht wäre mit einer Dreigliederung des Sozialen Organismus als zu durchdenkende Möglichkeit sicher hilfreich.
Die errungenen Werte der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ angewandt als Freiheit im Geistesleben, Gleichheit im Rechtsleben und Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, jeder Bereich unabhängig und in Selbstverwaltung.
Dann könnte auch die Idee des Nationalstaates verabschiedet werden und so ein wirklich dauerhafter Frieden für alle Menschen auf der Erde möglich sein.
Diese Dreigliederung benötigt keine Revolution, sondern ist eine evolutionäre Notwendigkeit für die Menschheit, eine Entscheidung zur rEvolution!
Interessant dazu zu lesen ist das Buch von Hannah Arendt „Die Freiheit, frei zu sein.“
Also liegt für mich die Wahrheit nicht im Dazwischen, sondern im Davor, also was Sehnsucht ursprünglich ist und wie sie sich heute zeigt.
Ermächtigen wir uns zur Gestaltung unseres Lebens, im Sinne von Josef Beuys: „Jeder Mensch ist ein Künstler“!
Cornelia Gärtner im Mai 2022